Was es bedeutet, als Lehrer Vorbild zu sein

Silvia kaut Kaugummi, während der Stunde. Noch dazu beim Lesen.

Während das Mädchen mit erstaunlicher Kreativität neue Silben konstruiert, die sie sofort wieder zwischen den Zähnen verschluckt, überlege ich fieberhaft, zu welcher Sorte Lehrer ich eigentlich gehöre. Streng oder cool? Und flüstere Silvia zwischendurch mit gespielter Lockerheit und einem Lächeln auf den Lippen zu (Schließlich will ich meinen Kids doch auch gefallen): "Geh, Silvi, spuck den Kaugummi aus." Woraufhin mich das Mädchen mit Engelslöckchen und großen, treuen, blauen Augen anblickt, und beteuert: "Ich habe keinen Kaugummi im Mund". Bitte wie? Glaubt die eigentlich selbst, was sie da sagt?

Mein SOS-Plan für solche Fälle: Abwenden, weggehen, einatmen, ausatmen – ein-aus-ein-aus. Und dazwischen ganz locker-lässig mit dem Unterricht fortfahren. Geht eh ganz leicht.

Also bitte ich Benny, weiter zu lesen in der Geschichte, in der es um einen Boxkampf, um Gewinnen und Verlieren geht. Ein durchaus kritischer Text. Ich höre zu. Nicht, ohne mein kleines Engelchen aus dem Augenwinkel zu beobachten. Die rhythmischen Auf- und Abbewegungen ihres Kiefers bringen die Wut in mir zum Kochen.

Können Engel eigentlich auch präpotent sein?

Blitzschnell spiele ich in Gedanken unterschiedliche Lösungen durch:

1. Lösung: Ich Frau Lehrerin, Du Schülerin. Ich Erwachsene, du Kind. Ich sage, was zu tun ist. Also ab zum Mistkübel, hinein mit dem Kaugummi. Am Rande kriege ich derweil mit, dass in unserer Geschichte X gerade Y eine verpasst und den Kampf gewinnt. Und fühle, dass Sport und Schule abgesehen vom Turnunterricht wohl doch wenig miteinander zu tun haben. Nein, das gehört wirklich nicht hierher.

2. Lösung: Ich Frau Lehrerin, du Kind. Aber wenn Frau Lehrerin befürchtet, dass sie null Chance hat, sich ohne Gesichtsverlust durchzusetzen, dann gehorcht sie Kind. Kind führt also Frau Lehrerin. So lange, bis die ganze Klasse nicht nur kaugummikauend im Unterricht sitzt, sondern der Frau Lehrerin auch mit treuem Augenaufschlag vermittelt, dass sie unter Halluzinationen leidet. Und im Übrigen– nur damit sie es wissen - 5 mal 5 ist seit gestern 27.

3. Lösung: Ich Frau Lehrerin, du Kind, wir Menschen. Ja, ich bin ein Mensch, der auch schon mal gelogen hat. Vor allem als Kind. Ich habe übrigens mal einen Dreier in Betragen gehabt – wegen Rauchens am Schulklo. Und habe mir, als ich deshalb zur Frau Direktor musste, geschworen, ab jetzt noch gefinkelter zu werden. Wollte weiterrauchen, keine Frage, nur Auffliegen, das wollte ich nie wieder.

Ich lächle ein wenig, und lasse sie erst mal los. Die Sache und die Silvia.

Und am nächsten Tag reden wir, ganz ruhig, während der Pause. Über Wahrheit und Lüge. "Weißt du, manchmal lügen wir alle. Lügen erscheint uns oft als der leichtere Weg. Aber hast du schon mal ausprobiert, wie es sich anfühlt, die Wahrheit zu sagen, obwohl es leichter wäre, zu lügen? Das ist schwer, aber mutig. Und jedes Mal wachsen wir ein kleines Stück."

Als drei Wochen später die Werklehrerin erbost die Klasse betritt und ebenso aggressiv wie verärgert in die Runde fragt, wer die Schere aus dem Werkkammerl entführt hat, zeigt Silvi auf. "Ich hab sie genommen". Ganz schön groß, finde ich.

(Andrea Vanek-Gullner, derStandard.at, 17.4.2013)